Zhuangzi / Einleitung

無聽之以耳而聽之以心。

Höre nicht mit den Ohren, höre mit dem Herzen (Zh.4)

Die Rückmeldungen der Leser der ersten Auflage haben in erstaunlicher Vielfalt die Tiefe und den Reichtum des Zhuangzi gespiegelt: Mit seinen liebevoll-spöttischen und ebenso hintergründig-ernsten Gleichnissen scheint er jenseits aller Zeiten und Kulturen Sehnsüchte und Fragen anzuregen, die viele in ihrem Herzen spüren.

Zhuangzi zu lesen, bedeutet in eine eigenartige und reiche Welt einzutreten, die nur schwer in Worten zu fassen ist. Es ist eine Welt voll merkwürdiger Geschichten und Metaphern, die Kopf und Herz gleichermaßen ansprechen, verwirren und nähren. Die Leser des alten China haben einen Abschnitt so lange gelesen, bis sie ihn „gargelesen haben“ (shudu – 熟讀), bis sie ihn schmecken konnten wie ein sorgfältig bereitetes Gericht, das Leib und Geist stärkt.

Der Gedanke des Nährens und Genährtwerdens ist grundlegend für das Verständnis der chinesischen Kultur, deswegen habe ich dieser Ausgabe ein Kapitel über das „Nähren des Lebens“ (auch „Pflege des Lebens“: 養生 - yangsheng) hinzugefügt. Wer das „Leben nährt“, der bemüht sich um Steigerung und Verfeinerung seiner Lebenskraft, der lebt in tiefer Verbundenheit mit der Natur: Er lässt sich von der „Schönheit von Himmel und Erde“ berühren und verwandeln.

Zhuangzi war der erste Philosoph, der den Ausdruck „Nähren des Lebens“ (yangsheng) verwendete und in seinen Bildern und Geschichten veranschaulichte. In ihnen will uns der Autor anregen, den Mut zum Eigenen („zu den passenden Schuhen“) zu finden: Kein Ziel, keine Idee ist so bedeutsam wie die tiefen Sehnsüchte, die jeder Mensch in seinem Herzen trägt und die ihn ausmachen. Es gibt somit kein „Richtig“ und „Falsch“, kein Rezept, an das man sich halten kann, sondern nur ein nie endendes Wagnis, das Absonderliche und Einmalige im eigenen Leben zu entdecken und zu bejahen. Hierzu schrieb der Kommentator Hu Wenying im 18. Jahrhundert:

Zhuangzi's Blick ist nüchtern, aber sein Herz ist warm. Sein Blick ist nüchtern, weil ihn nicht interessiert, was "richtig" und was "falsch" ist. Sein Herz ist warm, weil er von tiefem Gefühl ergriffen ist, ohne daß man für dieses einen Beweggrund nennen könnte. Zhuangzi kennt den Nutzen des Nutzlosen und so will er die menschlichen Eigenarten nicht leugnen. Da er diese so, wie sie sind, annimmt, haftet seinen Worten eine große Wärme an. Er versucht auch gar nicht, die Eigenarten zu kurieren, weil er sie versteht. Das heißt, daß sein Blick alles durchdringt. (Hu Wenying, Zhuangzi lunlüe)

Gerade weil die „nutzlosen Worte“ (3.1., 8.1.) des Zhuangzi aus einer anderen Welt und einer anderen Zeit kommen, verblüfft es um so mehr, wie aktuell diese bei genauerem Hinhören klingen. So ist es zum Beispiel erstaunlich zu lesen, wie der Autor des „Wahren Buches vom Südlichen Blütenland“ beschreibt, wie die Menschen immer mehr wissen und technisch beherrschen wollen, dabei aber nicht die Auswirkungen auf die Natur bedenken:

故上悖日月之明,下睽山川之精,中墮四時之施。

So bewirken sie, daß das Licht von Sonne und Mond in seiner Wirkung immer greller wird und seinen Rhythmus verliert, daß die Lebenskraft von Bergen und Flüssen aufgebraucht wird und versiegt. Letztlich lösen sie die Ordnung der vier Jahreszeiten auf und bringen sie zum Kippen.(7.5

Die Naturzerstörung wird möglich durch ein Denken, das sich nur noch auf Einzelphänomene spezialisiert und das den Blick für das Ganze des Lebens verloren hat:

判天地之美,析萬物之理,察古人之全,寡能備於天地之美。。。

Sie zerschneiden die Schönheit von Himmel und Erde, sie zerspalten die lebendige Ordnung aller Wesen und erforschen einzelne Aspekte dessen, was für die Alten ein Ganzes war. Wenige sind es, die die Schönheit von Himmel und Erde in ihrem Denken umfassen… (7.1.)

Auch wenn manches bei diesem merkwürdigen Autor fremd und ungewohnt klingen mag, so kann man sich dennoch in seine reiche Welt einfühlen und dabei so manches entdecken, das den Sinn für die zerbrechliche und kostbare Schönheit weckt, die alles Leben seit Jahrmillionen nährt und von diesem erfüllt wird. Sie mag auch jener Schönheit gleichen, die ein Astronaut erfährt, wenn er das erste Mal sieht, wie am Horizont der Mondoberfläche die Erde aufgeht …

 

Weiter zum Schmetterlingstraum